
Lange hat Uwe Tellkamp mit "Der Turm" die Bestseller-Listen angeführt. Zu Recht.
In epischer Breite, mit Satzkonstruktionen und Beschreibungen, die unbestimmt an Thomas Mann erinnern, beschreibt Tellkamp eine ostdeutsche Familie in Dresden sowie deren privates und berufliches Umfeld in der Zeit von 1982 bis zum Fall der Mauer 1989.
Die Hauptakteure des Romans "aus einem versunkenen Land", sind Richard Hoffmann, dessen Sohn Christian und Richards Schwager Meno Rohde. Sie leben im alten Dresdener Villenviertel an der Turmstraße; mehrere Familien teilen sich dort die einstigen Villen, die in mehrere kleine Wohnungen mit gemeinschaftlich genutzten Räumen aufgeteilt sind.
Die große Familie und das weitläufige berufliche Umfeld gestatten dem Autoren vielfältige Portraits von DDR-Bürgern. Mit Liebe zum Detail beschreibt Tellkamp das Auszüge aus ihrem Leben, neben
den Hauptgestalten portraitiert Tellkamp unzählige Personen. Der Leser wird mit vielen anekdotischen Erzählungen des Lebens in Dresden konfrontiert.
Amtsgänge nach "Ostrom", dem Teil Dresdens, in dem die Nomenklatura lebt und die Verwaltung bzw. die Justiz residiert, werden ebenso beschrieben wie das Wunder der mit urplötzlich verfügbaren,
dann aber nicht zu öffnenden Kokusnuss.
Anne und Richard Hoffmann versuchen ihre Kinder zu kritischer Distanz zum Regime zu erziehen, ein nicht einfaches Unterfangen. Ihre eigene Kritik gründet in einer Erziehung und resultierenden
Geisteshaltung, die in der DDR keinen Platz mehr hat: sie sind im klassischen Sinne Bildungsbürger.
Die Vermittlung der Haltung von Anne und Richard an die Kinder ist nicht nur von Erfolg gekrönt. Christian, ihr ältester Sohn, gerät desöfteren mit der DDR-Justiz in Konflikt, weil er als
Heranwachsender den feinen Grad zwischen leiser, womöglich akzeptierbarer Kritik und auffälligem Verhalten noch nicht beherrscht bzw. später nicht beherrschen möchte.
Richard beginnt im Laufe der Zeit eine außereheliche Beziehung, die ihn in vielerlei Hinsicht vor Probleme stellt. Neben diesen Symptomen der Midlife-Crisis muss er den Erpressungsversuchen der
Stasi standhalten. Die Ehe von Anne und Richard zerbricht letzten Endes an dieser und einer folgenden Affäre. Während Richard insgesamt privat wie gesellschaftlich gesehen resigniert, wendet Anne
sich der Oppositionsarbeit zu.
Kommentiert wird das Zeitgeschehen und ein Teil der Familiengeschichte durch eingestreute Texte Menos, welcher eigentlich als Lektor arbeitet. Eine Tätigkeit, die unter Zweifel Zensur vorwegnimmt
bzw. durchsetzt, die Meno durch das Schreiben eigener Texte kompensiert.
72 Kapitel, drei Zeitabschnitte, knapp 1.000 Seiten - das ist "Der Turm". Es ist
keine triviale Unterhaltung, sondern ein tiefgehendes Sittenbild eines Landes, das auf dem Weg in den "Mahlstrom", in den Untergang, ist. Es liefert mit dieser detaillierten, manchmal traumhaft
anmutenden Beschreibung und einer eingehenden Schilderung der wirtschaftlichen Umstände eine Begündung für den Untergang, für das Versinken dieses Landes des real existierenden Sozialismus.