Neuenfelde ist ein Hamburger Stadtteil. Wer hierher fährt, sieht ein Dorf. Wer einen der Bewohner trifft, sei es auf dem Hof, wo es Kirschen zu kaufen gibt, beim Weihnachtsbaumeinkauf oder dem
Bäckerbesuch, wird beim ersten Kontakt plattdeutsch angesprochen. Antwortet man auf plattdeutsch, spricht man plattdeutsch und gehört vielleicht irgendwann dazu. Antwortet man hochdeutsch oder
schaut verwirrt, dann wird dieses und jedes folgende Gespräch auf Hochdeutsch geführt. Dann kann sich der Angesprochene so fühlen, als sei er in der Stadt.
Ich antworte plattdeutsch. Ich lebe auf dem Dorf. Dies ist eine Ode an das Plattdeutsche.
Das Plattdeutsche ist eine liebevolle, detallierte Sprache, deren Vokabeln oft weicher als das Hochdeutsche klingen, wobei die gemeinsamen Wurzeln von Wörten oft "hörbar" sind.
Das Plattdeutsche besitzt aber auch viele eigene Wörter, die keine direkte hochdeutsche Entsprechung haben. Diese sind oft alther gebracht: so spricht der plattdeutsche Bauer zum Beispiel von
"Mieschen" und "Staaken" auf der Weide, auf der der hochdeutsche Städter (relativ junge, weibliche) Kühe sieht.
Ich kenne sechs Vokabeln für unterschiedliche alte Kühe, bin mir aber sicher, dass wenn ich auf einem Hof aufgewachsen wäre, wenn ich das Metier wirklich kennen würde, dann wüsste ich noch mehr
Worte für Kühe. Diese Vokabeln sind wie in jeder Sprache im Laufe der Zeit entstanden und reflektieren das ländliche Leben. So wie die Eskimos ihre Schneeumgebung detailliert durch Worte
kennzeichnen, belegt das Plattdeutsche sehr viele Feinheiten des Landlebens mit eigenen Worten. Das erleichtert die Kommunikation und gestaltet diese effizient.
Daneben gebt es auch Wörter, für die es eine hochdeutsche Entsprechung (also eine 1:1-Übersetzung) gibt, die aber offensichtlich unabhängig von der hochdeutschen Form entstanden sind. So kann es
sein, dass ein Plattdeutscher nach einem "Leuwoch" verlangt, während ein Norddeutscher einen "Feudel", der Süddeutsche hingegen einen "Wischmob" sucht. Gerade diese Worte sind für mich Teil
meiner Heimat, weil jeder der diese Worte kennt, sich zugehörig zeigt.
Einige Begriffe sind aus dem Hochdeutschen ins Plattdeutsche gewandert. Um Jugendliche zu beschreiben, fällt in Gesprächen häufiger das Attribut "obstranoatsch", was wohl dem Hochdeutschen
"obstinat" entlehnt ist. In das plattdeutsche Sprachleben wurden auch neuere Gegenstände aufgenommen: aus dem Flugzeug wurde "de Fleeger", aus dem PC "een Reckner". Diese Worte werden in der
gleichen Betonung und auf die selbe Weise wie alle anderen Wörter ausgeprochen. Es ist, als hätte das Plattdeutsche diese Gegenstände akzeptiert und adoptiert.
Aber dem "Reckner" kann es auch passieren, dass er als "Pee Zee" bezeichnet wird. Die meisten Menschen, die plattdeutsch sprechen können, sind auch des Hochdeutschen mächtig und können dies auch
unfallfrei und nahezu akzentfrei sprechen.
Dennoch ist es dem plattdeutsch Sprechenden eigen, durch eine besondere Betonung und akzentuierte Aussprache von einzelnen Wörtern dem Hörer klarzumachen, dass diese Wort eigentlich nicht aus
seinem Umfeld stammt, dass es hochdeutsch und nicht plattdeutsch ist.
Es ist, als würde der plattdeutsch Sprechende alleine durch die Art, wie er dieses Wort ausspricht, den betreffenden Gegenstand an spitzen Fingern haltend vor sich hertragen. Dabei werden gerne
Wörter, die ein "Studeerter" von sich gibt, in dieser besonderen Form akzentuiert: die Aussprache von "Koompleex"" und "Süündroom" beschreibt demnach ein Phänomen, dass der plattdeutsche Sprecher
ohne den "Studeerten" gar nicht gehabt hätte.
Ich bin mir nicht sicher, ob andere Idiome ähnliche Muster zeigen. Ich mag das Plattdeutsche, es ist Teil meines Seins und ein Ausdruck meiner Heimat. - Eine Heimat, die sich überall dort findet,
wo es Menschen gibt, die plattdeutsch sprechen und die durch ihre Art der Kommunikation und ihre Art der Aussprache klarmachen, woran sie glauben, die wissen, wohin sie gehören, und die mit jedem
Satz ihre eigenen Grenzen - und die des Gesprächpartners - aufzeigen können.