Navigation ist die „Steuermannskunst“ zu Wasser (Nautik), zu Land und in der Luft. Ihr Ziel ist, das Fahr- bzw. Flugzeug sicher zum gewünschten Zielpunkt zu steuern. Dem Steuern gehen zwei geometrische Aufgaben voraus: das Feststellen der momentanen Position (Ortsbestimmung) und das Ermitteln der besten Route zum Zielpunkt. [Wikipedia]
Navigation gibt es darüber hinaus auch in Projekten. Es ist die Aufgabe des Projektcontrollers. Aber was ist eine Ortsbestimmung im Projekt?

Mehr Fakten, weniger Emotion
Projektcontrolling löst viele Emotionen aus. (Warum diese da sind, und welche kommunikativen Auswege sich bieten, steht hier: An interstellar meeting: PM ./. Dev.)
In a nutshell: wir reden über Versagensängste. Die natürliche Frage des Projektmanagers ist "Am xx. ist Abgabe. Schaffst Du das?" Diese Frage ist getrieben von der Versagensangst des Projektmanagers. Wenn es schlecht läuft, ist das dem Tonfall der Frage anzuhören. Und diese Frage wird beantwortet von einem Projekt-Mitglied, dass nicht inkompetent oder unzuverlässig wirken möchte: "Das ist sportlich. Aber ich bekomme das hin."
Auf eine emotionale Frage hin hat der Projektmanager eine emotional getragene Antwort erhalten. Diese hat im Zweifel wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Es gilt, Frage und Antwort zu ent-emotionalisieren.
Projektcontrolling bedeutet, die folgenden Fragestellungen zu jedem Zeitpunkt des Projekts sicher beantworten zu können:
- Wie viel Zeit hat das Team bis zum nächsten Etappenziel?
- Was muß zum nächsten Etappenziel erreicht sein?
- Wie hoch sind die Restaufwände?
Verbliebene Zeit und Etappenziele
Wieviel Zeit bleibt uns noch?
Die verbliebene Zeit bis zum nächsten Etappenziel (d.h. vielleicht Teilauslieferung, Iterationsende, Bereitstellung zur Abnahme, Livegang, Release bei Euch) ist leicht zu bestimmen.
Man betrachtet die Anzahl der verbliebenen Werktage (Wochenende & Feiertage beachten; der Ostermonat hat immer am wenigsten Arbeitstage im Jahresvergleich) und hat im Blick, wie viel Arbeitsanteil für andere Themen (interne Besprechungen, andere Projekte) abzuziehen ist. Diesen Wert pessimiert man unter Betrachtung von zu erwartendem Urlaub (möglichst konkret) und zu erwartenden Krankheitsausfällen (im Dezember / Januar fallen mehr wegen Erkältungen aus als im Juni).
Damit steht der erste Wert: verbliebene Zeit (in Tagen) bis zum Etappenziel.
Was muss eigentlich fertig sein?
Die Frage, was eigentlich zum Etappenziel erreicht werden soll, muss klar von allen im Team beantwortet werden können. Im Artikel "Vom Umgang mit Change Requests" führte ich bereits auf, dass man bei den Projektverhandlungen Leistungsdaten für jedes Etappenziel definieren muss:
- Zielsetzung
- Leistungen
- Abgrenzungen
- Aufwand
Aufbauend auf diesen Angaben wird der Leistungsumfang für das Etappenziel verfeinert und fixiert (schriftlich / visuell, niemals nur mündlich). Die Fixierung ist sehr von den gewählten Projektmethoden abhängig. Das können Kärtchen mit UserStories, eine Feinspezifikation (schriftlich) oder Wireframes / Designs (visuell) sein.
Wichtig ist, dass über die Zielsetzung und den Leistungsumfang Einvernehmen herrscht - und das sowohl im Projektteam als auch gegenüber dem Auftraggeber.
Restaufwandsbestimmung im Projekt
Um eine Ortsbestimmung im Projekt vorzunehmen, gibt es viele Tools. Die folgende Liste repräsentiert meine Favoriten an Tools und Ritualen. Meine tägliche Verantwortung liegt in der Steuerung von Projekten der Größenordnung von 500 PT bis 1.000 PT.
Jeder dieser Tools bedarf Vertrauen im Team. Eine realistische Einschätzung von Restaufwänden kann - wie bereits erwähnt - eine emotionale Frage sein. Immer dann, wenn die Einschätzungen sich "nach oben" verändern. Arbeitet für eine Projekt- und Unternehmenskultur, in der eine ehrliche Bewertung von Restaufwänden belohnt und nicht bestraft wird. Nur im ersten Fall werden die Tools Euch etwas nützen.
In der Frage nach dem Restaufwand steckt implizit die Frage nach Komplexität und Unwägbarkeiten im Projekt. Je klarer ein Team darüber spricht, welche Kriterien gerade angelegt werden, um den Restaufwand zu bewerten, desto sicherer und genauer werden diese sein - und gleichzeitig ist dies der Anfang für ein gutes Risikomanagement des Teams.
Wöchentliche Restaufwandsschätzung im Team
Vorgehen |
Vorteil |
Nachteil |
Regelmäßiges Meeting, Liste mit allen Aktivitäten der Iteration, Zuordnung der Aufgaben zu Mitarbeitern; jeder Mitarbeiter schätzt seinen Restaufwand; Restaufwand wird summiert und
mit verbliebenen Arbeitstagen verglichen |
Schneller Überblick über alle Aufgaben; schnelle Identifikation von Problemfeldern |
Grundsätzliche Aufgaben können in initialer Liste übersehen werden; Restaufwand wird von Team-Mitglieder nicht realistisch eingeschätzt; Umgang mit "öffentlicher"
Restaufwandsschätzung nicht immer leicht. |
Projekttool oder Ticketsystem nutzen
Vorgehen |
Vorteil |
Nachteil |
Alle anfallenden Aufgaben werden in einem System erfasst, bewertet, priorisiert und in eine zeitliche Abfolge gebracht |
Systematische, auswertbare Übersicht aller Aufgaben; Prio-Setzung für Tickets für alle Team-Mitglieder sofort ersichtlich |
Vermeintlich Restaufwände auf <Klick> (d.h. falsche Sicherheit); Tickets haben die Angewohnheit, Gespräche zu unterlaufen / gefühlt unnötig zu machen; Übersehene Aufgaben haben es schwer, entdeckt zu werden |
Aufwandsbestimmung, Burn-Chart
Vorgehen |
Vorteil |
Nachteil |
Das Team bewertet im Vorfeld Aufgaben nach Komplexität mit Punkten. Nach definierterter Zeit wird ermittelt, wie viele Punkte "bearbeitet" wurden. Nach mehreren Iterationen ist Anzahl
bearbeiteter Punkte / Zeit klar. Durch Team-Bewertung der offenen Tasks lässt sich Zeitverbrauch ermitteln. |
Starke Rückkopplung von Schätzungen auf Ist: Realistische Einschätzung des Restaufwands des Teams. Klare Visualisierung als Burn-Chart verschafft Überblick (sowohl über Vergangenes als auch Kommendes) |
Gruppeneinschätzung der Tasks kann zu Fehleinschätzungen führen. Aufgaben sollten ähnlich groß geschnitten sein, um gut vergleichen zu können. Kleinere Themen gehen leichter
unter. |
Ortsbestimmung im Projekt
Mit den Fragen
- Wie viel Zeit habe ich noch?
- Was muss ich erreichen?
- Wie viel Aufwand ist noch zu leisten?
könnt Ihr als das Projekt steuern und kontrollieren. Daraus lassen sich andere Aussagen / Handlungen ableiten wie eine kaufmännische Betrachtung des Projekts oder eine Aussage zur Ressourcenlage.
Dennoch findet man im Projektalltag viele Projektcontroller, die ihrer Aufgaben nicht gut nachkommen. Das ist oft darin begründet, dass die Aufgaben des Projektmanagers und des Projektcontrollers zusammenfallen. Das kann Ärger mit sich bringen, auch eine Chance sein. Aber das ist ein anderes (Blog-)Thema.
Dieser Blog-Post ist ein privater Beitrag von Judith Andresen.
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- Kategorie: Projekt
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