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Agiles Coaching | Mit Haltung

Auf XING und LinkedIn ist eine deutliche Verschiebung von Titeln zu beobachten. Wer gestern noch als SCRUM Master wirkte, arbeitet heute als agile Coach.

 

Aber was genau heißt es, als agile Coach zu arbeiten? In einer Artikel-Serie setzt sich Judith Andresen mit agilem Coaching auseinander. Ziel ist es, das Rollenbild eines agilen Coaches zu schärfen.

 

Neben der Abgrenzung gegenüber bestimmten Projektrollen wie eines SCRUM Masters ist es notwendig, den Unterschied zwischen Beratung, Training und Coaching klar zu haben -- und entsprechend der Gegebenheiten zu handeln.

Training, beratung oder Coaching?

Training: In einem Training werden feste Inhalte vermittelt, geübt und so nachhaltig in die Praxis der Trainierten übernommen. In einem Training "gehört" im Wesentlichen die Lösung der Lehrkraft, eine Anpassung dieser Lösung kann im Rahmen des Trainings erfolgen, ist aber meistens nicht üblich. Trainings basieren auf festen Curricula. 

 

Wenn nur eine Trainingseinheit abgehalten wird, spricht man auch von einer Übung. Korrekterweise heißt eine Unterweisung von festen Inhalten Schulung. Training preist ein, dass die Inhalte geübt werden. Durch die Übung werden die Inhalte übernommen.

 

Beratung: In einer Beratung werden in prozessural geklärter Form eine Handlungsanweisung entwickelt und vorgestellt. Im Allgemeinen "gehört" die Lösung in Beratungsprozess dem Berater oder der Beraterin.

 

Ob die Lösung in die Praxis übernommen wird, hängt maßgeblich von der Akzeptanz des Beratungsergebnis und der Prozesssicherheit des / der Beratenden ab. Im Allgemeinen ist die Umsetzungsform nicht Bestandteil der Beratung (es sei denn, es handelt sich um eine Prozessberatung). 

 

Coaching: Im Coaching gehört die Lösung den Coachees: "Der Experte / die Expertin für das Problem ist auch der Experte / die Expertin"  für die Lösung. Coaches führten in einem standardisierten Ablauf Fragen und ermöglichen so eine eigenständige Lösungsfindung der Coachees. Coaches setzen bewusst Impulse ein, um Denkmuster aufzuzeigen, so dass Lösungen jenseits des bisherigen Lösungsraums möglich werden. 

 

Coachees entwickeln im Allgemeinen nicht nur die Lösung, sondern erarbeiten im Rahmen des Coaching-Prozesses auch einen Weg, wie sie zu dieser Lösung gelangen können.

 

Mentoring: Als agiler Dreiklang wird häufig Training, Coaching, Mentoring genannt. Mentoring bezeichnet den Wissenstransfer zwischen jemanden mit einer höheren Sach- und Handlungskompetenz an jemanden, der sich weiterbilden möchte. Im Gegensatz zu den vorher genannten Methoden folgt Mentoring keinem strukturierten Prozess. Im Allgemeinen werden Mentoren oder Mentorinnen nicht für ihre Aufgabe ausgebildet. Im Allgemeinen werden Agile Coaches die Rolle des Mentoren oder der Mentorin nicht einnehmen.

Beispiel: Klarheit in der Rolle suchen

In einem Unternehmen haben sich alle SCRUM Master in agile Coaches umbenannt. Sie haben dies getan, weil 

  1. einige Teams auf Kanban als Projektmethode umgestellt haben und daher die Bezeichnung "SCRUM Master" nicht mehr korrekt ist und 
  2. der SCRUM-Guide als Services für die Organisation "Leading and coaching the organization in its Scrum adoption" definiere. Für diese Tätigkeit sei der Titel "SCRUM Master" nicht angemessen. 

Dennoch verstehen sich die agile Coaches als Teammitglieder ihrer Teams. In einer Community of Practice (CoP) versuchen sie, die notwendige Organisationsentwicklung zu SCRUM voranzutreiben. Diese Entwicklung stockt. Die agile Coaches sind auf Grund ihrer Wirkungslosigkeit demotiviert. 

 

Parallel dazu kommt Unmut in der Organisation auf: Die Teams suchen nach einer beständigen Moderation und Organisation ihrer Team-Angelegenheiten. Die agile Coaches sind für die Teams nicht mehr in der gewohnten Form greifbar. Die Geschäftsführung ist über das Ansinnen, die gesamte Organisation nach SCRUM umzugestalten irritiert. Sie fragte die agile Coaches, woher dieses Ansinnen stamme. "SCRUM um jeden Preis" sei nicht die Aufgabe gewesen, die Aufgabe sei gewesen: "funktionierende, selbstgesteuerte Teams" zu fördern.

 

Es macht einen Unterschied, ob ich in der Rolle als SCRUM Master den Auftrag (aus der Rolle heraus) habe, für den Einsatz von SCRUM zu werben und die Organisation entsprechend dahin zu begleiten -- oder ob als agile Coach den Auftrag der Organisation erhalte, die Organisation in die Agilität zu begleiten. 

 

Die gefühlte Wirkungslosigkeit und die folgende Demotivation vieler agiler Coaches rührt daher, dass sie eigentlich als SCRUM Master Teams begleiten, aber gerne die Organisation als Ganzes treiben möchten. 

 

Klärt mit Euren Stakeholdern und dem Team Euren Auftrag. Es macht einen Unterschied, ob Ihr Beratung, Coaching, Mentoring oder Training anbietet. Genauso macht es einen Unterschied, ob Ihr als SCRUM Master oder agile Coaches handelt. 

 

Die Auftragsklärung für agile Coaches werde ich einem späteren Artikel beschreiben.

Viele agile Coaches agieren faktisch in einer Mischung aus Beratung und Training. Sie überlassen die Lösung nicht den Coachees. Eine nachhaltige agile Transition wird nur gelingen, wenn die Beteiligten die notwendigen Verhaltenswechsel vollständig durchziehen. Coaching verspricht in diesem Sinne den größten Hebel.

 

Umgekehrt nennen sich viele Personen selbst agile Coaches, die faktisch als SCRUM oder Board Master handeln. Im Folgenden gehe ich davon aus, dass die agile Coaches sich der Coaching-Haltung verschrieben haben und nicht direkte Team-Mitglieder sind. 

 

Es kann sinnvoll sein, auf Trainings und / oder Beratung zu setzen. Für Teams und Personen mit einem geringen Reifegrad (im Sinne des Reifegradmodells) ist es einfacher, eine Trainingsfolge abzuarbeiten. Damit diese Trainingsfolge sauber sitzt, ist in diesem Falle eine echte Beratung erforderlich. Dies werde ich einem späteren Artikel näher beleuchten.

 

Coaches setzen auf unterschiedliche Impulse, um den Lösungsraum der Coachees zu erweitern:

  • Trigger / Muster: Coaches helfen Coachees, Verhaltensmuster und deren Trigger sowie die darunter liegenden Motive zu verstehen. Aus dem Verständnis heraus sind neue Lösungen möglich. Bei der Klärung der Trigger und Muster werden Coaches die psychologische Integrität ihrer Coachees wahren. Entsprechende Interventionen sind Psychotherapeuten und -therapeutinnen vorbehalten.
  • Aktivierung: Coaches unterstützten Coachees dabei, bei ihnen vorhandene positive Verhaltensweisen, Kompetenzen oder Einstellungen bewusst zu formulieren. Die so formulierten Stärken können von den Coachees zur Lösungsfindung genutzt werden.
  • Reflexion von akuten Problemen: durch öffnende Fragen ermöglicht der Coach den Coachees neue Einsichten und Sichtweisen auf die beschriebenen Probleme. Diese Einsichten können den Lösungsraum erweitern.
  • Konkretisierung: Coaches können durch Benennen und Ausformulieren von beschriebenen Verhaltensweisen den Coachees helfen, Verhaltensmuster zu erkennen. Diese Impulse können zu Einsichten führen, welche den Lösungsraum der Coachees vergrößern.

Das agile Manifest (genauer: das sechste Prinzip) verschreibt sich dem direkten Gespräch zwischen den Beteiligten genauso wie der ständigen Reflexion der eigenen Handlungsweise (zwölftes Prinzip). Coaching beantwortet diese Anforderungen exzellent.

 

Daher ist Coaching das probate Mittel, um eine agile Transition zu begleiten. Agile Coaches setzen bewusst Sekundärberatung ein, um die Lösungsräume fachlich, prozessural oder im zwischenmenschlichen Umgang zu erweitern. Sekundärberatung geht über Impulse setzen hinaus. (Artikel folgt ;-)

 

Sofern Coaching das zielführende Mittel ist, damit eine Veränderung von Rollen, Ritualen und / oder Verhalten geschieht, folgt Coaching einer Haltung, die sich mit drei Worten beschreiben lässt:

Mit Haltung: empathisch, distanziert + dissoziiert

Agile Coaches wertschätzen ihre Coachees und erkennen deren Sorgen, Hindernisse und Ängste an. Agile Coaches begleiten Menschen in Organisationen. Sie erkennen die Menschlichkeit im Handeln. Sie kennen die Psychologie von Veränderung für Einzelpersonen und Gruppen und können mit diesen Erkenntnissen souverän umgehen. Dieser Umgang ist von aufmerksamen Zuhören und impulsgebenden Fragen geprägt.

Empathie kann nur in Aufrichtigkeit und verletzlichem Vertrauen entstehen. Agile Coaches wahren die Vertraulichkeit des Gesprächs. Der Coach fördert durch klares, verlässliches Handeln das verbindliche Vertrauen und öffnet so Raum für verletzliches Vertrauen im Coaching-Gespräch. Eine echte Öffnung kann nur stattfinden, wenn die Coaches Empathie für ihre Coachees aufbringen -- und Verständnis zeigen können. 

Agile Coaches handeln souverän und mit Distanz in der Sache, das heißt sie erkennen die von den Coachees gefundene Lösung an.

Agile Coaches achten den Lösungsraum und die Lösungsmöglichkeiten der Coachees. Agile Coaches fördern die Lösungsfindung, aber sie finden die Lösung nicht selbst.

Die agile Transition „gehört“ den Coachees – nicht den agile Coaches. Es stellt sich nicht die Frage, wer die bessere Lösung hat. Distanz erkennt die Lösungskompetenz der Coachees an -- der Coach ist aus der Lösungsfindung "raus".

Eine fachliche Beurteilung und Einordnung der gefundenen Lösung ist dennoch wichtig. Es ist stets abzuprüfen, ob ein Impuls im Sinne des Coachings oder Sekundärberatung im Sinne des agilen Coachings notwendig ist.

Gute Impulse, öffnende Fragen und / oder eine effiziente Sekundärberatung werden nur dann gelingen, wenn die agile Coaches nicht in den behandelten Systemen verwoben sind. Wenn dies der Fall ist, fehlt ihnen die Dissoziiertheit zum System. 

 

Als Teil des Systems werden Coaches zum Beispiel Lösungsräum-öffnende Fragen nicht stellen können, weil schon die Frage nicht mehr im Handlungsraum des Coaches liegt.

 

Systeme existieren sowohl auf organisatorischer Ebene als auch in Erwartungen und Vorstellungen von handelnden Personen und Rollen. 

Professionell: die Coaching-Haltung überprüfen

Um eine empathische, distanzierte und dissoziierte Haltung als agile Coach sicherzustellen, überprüfen diese regelmäßig ihre Arbeit und ihre Wirkung in geeigneten Reflexionsformaten, wie zum Beispiel Supervisionen. Die Selbstbegegnung für Coaches ist eine wichtige Aufgabe im Umgang mit den Coachees.

Ziel der Reflexion ist es, eine möglichst umfassende und effiziente Wirkung als agile Coach zu erreichen. Dabei ist sicherzustellen, dass sich diese Wirkung im Rahmen der Coaching-Haltung entfaltet.

  • Ein Coach muss verstehen und erkennen, wann und warum er / sie die Empathie gegenüber Coachees verliert. 
  • Ein Coach muss verstehen und erkennen, wann und warum er / sie sich in eine Lösung "verliebt" beziehungsweise eine Lösung nicht anerkennen kann. 
  • Ein Coach muss verstehen und erkennen, wann und warum er / sie sich in einem System verliert und damit Handlungskompetenz verliert.

Die Erfahrung zeigt, dass externe Coaches vorwiegend mit der Distanz hadern, während es internen Coaches häufig schwerfällt, dissoziiert zum System zu agieren.

Ist sich ein agile Coach über die Ursachen bewusst, wann und warum er / sie die korrekte Coachinghaltung verliert, kann er oder sie damit aktiv umgehen und diese Situation verhindern oder offen damit umgehen. 

 

Arbeiten agile Coaches in Teams, reflektieren sie auch regelmäßig im Team. Fokus der Auseinandersetzung ist die korrekte Haltung und das effiziente Wirken für die Organisation.

 

Artikelserie "Agiles Coaching"

Teil 01 | Mit Haltung 

Teil 02 | Werte

Teil 03 | Aufgabe

Teil 04 | Coachinghypothese

Teil 05 | Agile Reifegrade



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Kommentare: 1
  • #1

    Stefan (Mittwoch, 23 August 2017 10:12)

    Hallo Judith,

    vielen Dank für diesen tollen Artikel und auch für die Serie. Ich lese sowohl die Serie als auch Dein Buch dazu. Die Schärfung der Rolle als agile Coach finde ich sehr nachvollziehbar und gelungen. Als Orientierung und für die eigene Professionalisierung kann es für viele agile Coaches hilfreich sein.

    Vielen Dank und liebe Grüße
    Stefan