Die Reißleine ist (wörtlich) ein sehr langer Faden, mit dem bei sehr langen Maschinen, der Not-Aus-Schalter betätigt werden konnte.
Das Projekt steht an der Wand. Und nun? "Wir müssen die Reißleine ziehen!" Aber was heißt das? Ganz aufhören? Oder einen neuen Anlauf starten? Wie sehen Optionen beim Projektstatus "ROT" aus?

Auslieferungstermin gerissen
Projektkrisen sind vermeidbar durch ein offenes und ehrliches Projektcontrolling. Gelingt uns dies, erkennen wir Risiken in Bezug auf die Zielsetzung des Projekts und können handeln. In Projekten geht es immer mal hoch her. Das ist nicht mit Projektkrisen zu verwechseln. Die leidenschaftliche Debatte, was genau zum Projekt gehört und wie das Team genau zusammenarbeitet, gehört zum Entwicklungsprozess eines Teams.
Projektkrisen werden dann offenbar, wenn das Liefern von Einzel- bzw. Gesamtteilen nicht möglich ist. Projektkrisen zeichnen sich dadurch aus, dass meist alle Parameter
- Zielerreichung
- Zeitplanung
- Qualität
- Aufwand
auf "ROT", also außerhalb des ursprünglich Geplanten, stehen. (GELB würde heißen: eine Überschreitung ist abzusehen; GRÜN: wir sind im Plan.)
Projektabbruch durchkalkulieren
Im Prinzip gibt es jetzt zwei Optionen:
- Das begonnen Projekt wird gestoppt. Eine Fortsetzung findet nich statt.
- In einer Projektpause werden Voraussetzungen / Rahmenbedingungen / ... geändert. Das Projekt wird wieder aufgenommen.
Für die Kalkulation sind neben den budgetären Aspekten auch Themen wie Imageverlust und Folgekosten zu berücksichtigen. Eine Änderung des Projektmodus ohne Pause wird nicht funktionieren.
Es bedarf Ruhe, um die richtigen Entscheidungen zu treffen. Es sind die Zielsetzung, das Projektteam und -rituale zu hinterfragen und neu zu definieren. Das erledigt sich nicht neben der Arbeit. Daher ist die erste Maßnahme, für eine Projektpause zu sorgen.
Für eine Re-Justierung des Projektziels sorgen
Projektkrisen ist eigen, dass vielen Projektbeteiligten nicht (mehr) klar ist, was geliefert werden soll. Man findet sich häufig in einer Gemengelage aus unklaren Anforderungen und eine Liste von Änderungswünschen, von denen nicht klar ist, um es sich um kostenpflichtige Change Requests oder um Spezikationsverfeinerungen handelt. Diese Unsicherheit, was zum Lieferumfang gehört, findet sich oft parallel beim Auftraggeber und -nehmer.
Entsteht diese Unsicherheit dadurch, dass die Zielsetzung des Projekts schon beim Auftraggeber nicht klar formuliert ist, empfiehlt sich tendenziell ein Projektabbruch. Gerne begleitet von dem Angebot, dem Auftraggeber bei der Ausformulierung einer klaren Zielsetzung (im Sinne einer SMARTen Zielsetzung) zu helfen.
Entsteht die Unsicherheit über den Leistungsumfang eher auf Auftragnehmerseite, ist für eine gemeinsame Sicht im Team zu sorgen. Einschließen, Papiere studieren, den Auftraggeber beteiligen, viel fragen. Aufschreiben. Wandzeitung, Tickets - was immer Ihr braucht und was Ihr lesen könnt. Methode finden und Inhalte klären.
Anforderungen priorisieren
Wenn Auftraggeber und -nehmer sich wieder gemeinsam über die Zielsetzung und Inhalte des Projekts im Klaren sind, ist es Zeit für eine Priorisierung. Was muss jetzt getan werden? Was kann (wann) nachgeliefert werden?
Das Projektteam braucht dringend ein motivierendes Erlebnis. Die nächste Lieferung muss sitzen (und danach gefeiert) werden.
Auftraggeber sehen oft den eigenen Anteil an einer Projektkrise und kommen dem Auftragnehmer mit der Priorisierung entgegen. Um ein strukturiertes Ergebnis zu erhalten, hilft es von Auftragnehmerseite einen Vorschlag zu formulieren, der sich an der Zielsetzung des Projekts orientiert und dem aktuellen Entwicklungsstand Rechnung trägt.
Dem Projekt fehlte es bisher an einer guten Kultur: die Basis für Transparenz, Takt und Beständigkeit ist durch einen priorisierten Projektplan zu schaffen.
Kommunikation klären
Projekte scheitern an mangelnder Kommunikation und unklaren Projektritualen. Mit mehr Druck die gleiche Projektmethode fortzuführen, wird das Projekt nicht in den Status "GRÜN" zurückführen. Um aus der Krise herauszukommen, ist zu klären, an welcher Stelle es hakt:
- Projektleiter ./. Auftraggeber
- Team-Mitglieder ./. Projektleiter
- Team-Mitglieder untereinander
Auch hier gibt es ein Not-Aus: der Wechsel von Projektbeteiligten.
Das schließt den Ansprechpartner auf Auftraggeberseite ein. Identifziert man die Projektleitung auf Auftraggeber als ein wesentliches Projekthemmnis, ist eine Kommunikation über die Steuerungsebene des Projekts gefragt. Das ist unangenehm. Viele Auftragnehmer trauen sich dies nicht im ersten Schritt. Eine gute Zuarbeit gehört zu den Mitwirkungspflichten des Auftraggebers. Klartext hilft. Mögliche Auswege sind ein geändertes Verhalten der Ansprechpartner auf Auftraggeberseite oder der Wechsel von Ansprechpartnern.
Gleichzeitig gilt es auch auf das eigene Projektteam zu gucken. Woran hakt es? Genügt es, die Zielsetzung und einen realistischen Zeitplan geklärt zu haben, oder geht die Mißkommunikation tiefer? Schafft das Projektteam - mit Unterstützung - die eigenen Vorgehensweise zu klären? Oder sind Mitarbeiter, die Projektteamleitung bzw. das gesamte Team zu wechseln?
Die Chance in der Krise
Viele Projekte in der Krise erfahren einfach eine Aufstockung des Personals. Es wird Brook's Law (Wikipedia) mißachtet: "Adding manpower to a late software project makes it later". Ein Aufstocken des Teams wird nur funktionieren, wenn die Zielsetzung, Team, Methode und Zeitplanung in der Projektpause sinnvoll neu definiert wurden.
Gelingt dem Projektteam in Zusammenarbeit mit dem Auftraggeber aber genau das, hat das (dann womöglich erweiterte bzw. geänderte) Projektteam die Möglichkeit, das Projekt erfolgreich abzuschließen. Gleichzeitig lernen alle Projektmitglieder, welche Methoden und Maßnahmen sie zum Projekterfolg gebracht haben. Wertvolles Wissen für das nächste Projekt ;-)
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Dieser Blog-Post ist ein privater Beitrag von Judith Andresen.
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